Forschungsprojekte

Prof. Dr. Gerhard Weilandt

TRANSRAZ – Übertragung des Nürnberger Topographie- und Zeitmodells in die Öffentlichkeit

Die von der Universität Greifswald, dem Leibniz Institut FIZ Karlsruhe und weiteren Projektpartnern in den Jahren 2016-2018 entwickelte virtuelle Forschungsumgebung TOPORAZ (Nürnberger Topografie in Raum und Zeit, www.toporaz.de) ist bislang national wie international ohne Vergleich. Am Beispiel des zentralen Platzes der Stadt Nürnberg – des Hauptmarkts – wurden erstmals wissenschaftlich fundierte 3D-Modelle in vier Zeitstufen vom Barock bis in die Gegenwart entwickelt. Sie sind vollständig georeferenziert und direkt mit einer Datenbank verknüpft, für die historische Quellen (Texte, Bilder und Karten) neu erschlossen und eingepflegt wurden. So wurde es möglich, die Entwicklung dieses Stadtraums von den Anfängen bis zur weitgehenden Zerstörung der Altstadt im Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus zu dokumentieren und anschaulich darzustellen.

Die digitale Rekonstruktion ist mit vielen Herausforderungen konfrontiert, wenn man sie wissenschaftlich absichern und nicht nur auf eine vage Anschaulichkeit reduzieren will. Von den historischen Gebäuden des Hauptmarktes waren nur die platzbeherrschende Frauenkirche und ein einzelnes Gebäude als Ruinen erhalten. Sie reichten jedoch aus, einen verlässlichen Maßstab für die Dimensionen der anderen Gebäude zu liefern. Diese wurden auf der Basis von Zeichnungen und Druckgrafiken seit dem 16. Jahrhundert und Fotografien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts rekonstruiert. Hinzu kamen Bauakten des 19. Jahrhunderts mit zahleichen Grundrissen und Aufrissen. Im Allgemeinen und insbesondere für den Hauptmarkt ist die Quellenlage in Nürnberg exzellent – das Stadtarchiv verfügt über einen riesigen Fundus von mehreren 10.000 historischen Fotos und 75.000 Bauakten. Deshalb konnten die zerstörten Häuser vergleichsweise detailliert rekonstruiert werden. Auf eine farbige Rekonstruktion der Fassaden wurde bewusst verzichtet, da die Quellen dafür nicht ausreichen. Darüber hinaus sind nicht alle Häuser Nürnbergs in Zeichnungen oder Fotos überliefert. Das betrifft insbesondere die kleinen und engen Nebengassen. In diesen Fällen werden vereinfachte 3D-Modelle in TOPORAZ eingestellt, wobei immer die Möglichkeit besteht, bei neuen Funden die schlichten Fassaden durch präzisere Modelle zu ersetzen. Es gibt fünf Levels of Detail (LoD A-E) von einer einfachen, nur die Kubatur anzeigenden Kiste in Grundstücksgröße bis zum detailliert ausgearbeiteten Modell mit Fassade, Nebengebäuden und Innenhöfen.

Die an die 3D-Modelle angeschlossene Datenbank enthält alle verfügbaren Quellen zu den Objekten (öffentliche Bauten, Privathäuser, Plätze etc.) von den Anfängen der Überlieferung im Mittelalter bis heute. Die Informationen betreffen auch deren Bewohner und Nutzer, ihre familiären, beruflichen und sozialen Verflechtungen. Die virtuelle Forschungsumgebung wird so zur Plattform für die Zusammenführung von heterogenen Forschungsdaten aller historischen Disziplinen. Sie unterstützt damit das vernetzte transdisziplinäre Arbeiten. Die meisten in TOPORAZ enthaltenen Daten sollen unter freien Lizenzen zur Nachnutzung zur Verfügung stehen, eine zentrale Voraussetzung für die Umsetzung einer Open-Science-Strategie, die erst eine breite Nutzung ermöglicht. Im März 2020 beginnt das Nachfolgeprojekt TRANSRAZ (Laufzeit drei Jahre), in dem der Transfer von TOPORAZ in die breite Anwendung erfolgt.

Hier wird der innovative Ansatz erheblich erweitert. Die gesamte Altstadt Nürnbergs (ca. 3.000 Häuser, davon nur ca. 10% bis heute erhalten) wird jetzt erfasst. Erst so können die übergreifenden Stadtstrukturen und die sozialen Netzwerke Nürnbergs in den Blick treten. Dazu müssen – anders als im Vorprojekt – Big-Data-Methoden zur (teil-)automatischen Quellenerschließung angewandt werden, womit das Projekt eine neue Ausrichtung im Sinne Künstlicher Intelligenz erhält. Ferner sollen die georeferenzierten Daten mit externen Datenquellen (Archivportal-D, Druckwerke) verknüpft und somit Teil eines weltweiten Netzwerks werden. Geplant ist die Erweiterung um eine Beteiligungsplattform im Sinne von „Citizen Science”, etwa durch die Möglichkeit, private Fotos oder Urkunden in das Modell einzustellen. Die virtuelle Forschungsumgebung ermöglicht es, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in anschaulicher Weise für Anwender*innen außerhalb der Wissenschaft nutzbar zu machen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Erkenntnistransfer und zur Bildung. Grundsätzlich ist TRANSRAZ auf beliebige topografische Räume anwendbar und kann standardisierend für die raumbezogene Forschung wirken. Hieraus ergeben sich Perspektiven für die Nachhaltigkeit auch im außerakademischen Bereich.

TOPORAZ - Topographie in Raum und Zeit
die Greifswalder Arbeitsgruppe. Frau Christiane Stöckert, Marco Pliska, Friederike Holst (Nicht im Bild: Prof. Dr. Gerhard Weilandt, Ulrich Schneider)

TOPORAZ zielt auf die Konzeption und den Aufbau einer neuartigen virtuelle Forschungsumgebung (VFU) für die objekt- und raumbezogene geisteswissenschaftliche Forschung. Exemplarisch dargestellt wird das topografische Erscheinungsbild eines Stadtviertels im historischen Nürnberg in drei Zeitebenen (Frühe Neuzeit, 1939 und Gegenwart), bestehend aus georeferenzierten 2D-Karten und 3D-Modellen, die als Navigationsstruktur dienen. Der innovative Ansatz liegt in der Koppelung des interaktiven Stadtmodells mit Forschungsliteratur und Quellmaterialien (Text, Bild, Ton), die den 3D-Objekten des Modells mittels Verknüpfungspunkten (Hotspots) direkt zugeordnet werden. Die VFU dient als Plattform für die Zusammenführung von äußerst heterogenen Forschungsdaten. Sie unterstützt übergreifende Forschungsansätze und vernetztes, transdisziplinäres Arbeiten. Zudem dient sie als Open-Access-Publikationsplattform, die einen direkten Zugang zu den Forschungsdaten und -ergebnissen im Sinne von Open Science ermöglicht.

TOPORAZ wird im Rahmen des Leibniz-Wettbewerbs von der Leibniz-Gemeinschaft über drei Jahre gefördert (2015-2018). Projektpartner sind

  • Universität Greifswald
    Caspar-David-Friedrich-Institut
    Lehrstuhl Kunstgeschichte (Prof. Weilandt)
  • Universität zu Köln
    Kunsthistorisches Institut
    Abteilung Architekturgeschichte (Prof. Nußbaum)
  • Technische Universität Darmstadt
    Fachgebiet Informations- und Kommunikationstechnologie in der Architektur (Dr. Grellert)
  • FIZ Karlsruhe – Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur
    IT, Entwicklung und Angewandte Forschung
    e-Science (Razum)
  • Bayerische Staatsbibliothek (assoziierter Partner)